Dieser Tage habe ich, wegen der Sportverletzungspause, etwas Zeit gefunden, zurückzublicken.
Als Sportler tue ich das meist nur, um meinen aktuellen Trainingsstand zu bestimmen. Beispielsweise um zu prüfen, mit welchen Einstellungen, Ideen und Strategien ich in gerade DIESER aktuellen Situation im Training oder auch ganz allgemein in meinem Leben gelandet bin. Rückblick ist, so gesehen, ein strategisches Instrument zur Standortbestimmung und zur weiteren Planung oder mit anderen Worten: Wo komme ich hin, wenn ich so weitermache wie bisher?
Schaue ich heute zurück, führte mich mein Weg nach der Schule nicht direkt zum Sport. Er führte mich nach dem Schulabschluss 2003 zunächst direkt ins Studium, denn Wehr- oder Zivildienst durfte ich nicht absolvieren. Ich erinnere mich gut daran, wie es mich mit 19 Jahren raus aus einer turbulent und belastend gewordenen Familiensituation und rein in ein neues Leben mit neuen Möglichkeiten zog. Der Duft der Freiheit – zumindest in der Fantasie dieser Tage!
Rückblickend, glaube ich, dass junge Menschen während der Schulzeit und auch danach mitunter viel Zeit und Anregungen brauchen, um sich selbst und ihren Wünschen, Werten und konkreten Plänen auf die Schliche zu kommen. Vielleicht hat auch der ein oder andere dazu den Wehr- oder Zivildienst genutzt. Wie auch immer, fest steht: Das ist eine große Herausforderung – und ein ganz spannender Weg nach der Schulzeit!
Mein Weg führte mich direkt in einen Dschungel. Einen Dschungel aus Paragraphen und in ihm eine überwiegend wissbegierige, strebsame und in Regeln und Normen denkende Meute junger Abenteurer – Schrägstrich Jurastudenten und -studentinnen. Das war eine spannende Zeit mit vielen neuen Erfahrungen: Die erste eigene Mietwohnung, der erste Studentenjob und die Zügel des Alltags zum ersten Mal komplett allein in der Hand. Das kann einen jungen Menschen fordern und das ein oder andere Mal vielleicht sogar überfordern!
Zum Glück war mir damals, Dank sei meinen Eltern, mein nachhaltiges und angeborenes ‚Taubheitsgefühl‘ unterhalb der Kniescheiben – Ärzte nennen es ‚Spina Bifida‘ – so selbstverständlich zu eigen geworden, dass mir wohl erst bei dem Verlust dieses ‚kleinen Details‘ aufgefallen wäre, dass etwas ‚faul sein könnte‘. Soll heißen: Dieses ‚kleine Detail‘ beschäftigte mich zum Glück selbst weitaus weniger als scheinbar mein Umfeld und kam also nur selten als körperliche Belastung zu den Herausforderungen jener Zeit hinzu.
Ganz pragmatisch betrachtet, hielt ich etwa eine Wohnung mit Aufzug oder im Erdgeschoss für hilfreich.
Die ellenlangen Treppen der Hörsäle hingegen kraxelte ich, zur anfänglichen Verwunderung meiner Studienmitstreiter, bis hoch zu jenen Plätzen mit wundervollem Ausblick auf das gesamte Vorlesungsgeschehen …abseits der Dozentenvorträge.
Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen, aber die Reaktion, wenn ich aufstand, nicht nur meiner Studienmitstreiter, sondern auch der Lehrenden, bezeichnete ich seinerzeit als das „fast schon biblische „Er kann wieder gehen!“-Phänomen, das meist mit ungläubigen „Er ist ein Simulant!“-Blicken und staunendem Schweigen quittiert wurde. Aber daran gewöhnte man sich wohl bald, denn die Blicke wurden weniger und wichen meist bloß gelegentlichen, höflich-flüchtigen Hilfsangeboten. Genauso mag ich das – keinen großen Wirbel um Wirbelsäulendefekte.
Baulich hat sich seit meinem Studienbeginn damals hier und da etwas getan. So wurden mit der Zeit zusätzliche Aufzüge oder auch Blindenleitsysteme installiert. In den Einstellungen der Menschen tut sich auch einiges – Unsicherheiten im Umgang mit ‚Behinderungen‘ verschwinden teilweise und Dialoge entstehen, die wertvolle Erfahrungen auf beiden Seiten und eine Selbstverständlichkeit im Miteinander schaffen.
Was aber auch nach einem Studienwechsel von Jura zu schließlich Grafikdesign sich zäh wie Plutonium in der Landschaft hielt, waren manchmal undurchlässige und unflexible Schubladen in den Köpfen meiner Mitmenschen.
Diese erwiesen sich auch im Studium als meist größere Herausforderung für mich als beispielsweise bauliche Hindernisse, weil sie deutlich schwerer zu sanieren sind.
Wenn mir ein Satz in diesem Zusammenhang in Erinnerung geblieben ist, so war es die Begrüßung eines Dozenten vor der gesamten Teilnehmergruppe in seinem Kurs mit den Worten: „Nur damit das klar ist, Herr Machens, in MEINEM Kurs kriegen SIE keine Extrawurst!“. Bis dahin hatte ich lediglich meinen Namen genannt, ließ aber unerwähnt, dass ich damals Vegetarier war.
Ob Tofu oder Fleisch: Extrawürste sind eine äußerst uninklusive Angelegenheit, die Unterschiede unterstreichen. Wichtig sind aber zeitgemäße Würste, die für den Konsumenten verdaubar sind und existierende Unterschiede akzeptieren. Ein Rollstuhlnutzer braucht in der Regel, je nach Bewegungseinschränkung, barrierefreie Räumlichkeiten, nicht aber Vorteile in den Bewertungen von Studienleistungen.
Die Auseinandersetzung mit solchen Erfahrungen waren und sind mir heute noch wichtige Lektionen, die einem Selbstdistanz, Geduld und Diplomatie abverlangen und an denen man, neben allem Ärger und aller Enttäuschung, nach dem ersten Kummer auch wachsen kann. Genauso gehe ich die Herausforderungen seither in vielen Bereichen an, wenn es mir denn gelingt. Und so konnte und kann ich heute noch von meinem Studium, über das fachliche Wissen hinaus, vor allem von den vielen Erfahrungen profitieren.
Ein Studium als Rollstuhlnutzer ist längst möglich und nichts Ungewöhnliches mehr – wenn auch noch nichts Alltägliches. Wichtig: Jeder Mensch (auch Rollstuhlnutzer) hat individuelle Bedürfnisse und ein offener Austausch und ein empathisches Miteinander sind die Grundlage auch für ein gelingendes Studium. Mein Eindruck ist, dass wir da auf einem guten Weg sind, aber an den Räumlichkeiten müssen wir noch arbeiten.
