So herausfordernd, über ein Thema zu schreiben, war es für mich bisher noch nicht. Und gerade frage ich mich: ‚Warum eigentlich?‘. Weil es mich persönlich betrifft. Wen aber betrifft das, was wir ‚Inklusion‘ nennen, nicht? Wollen nicht die meisten von uns gesellschaftlich teilhaben? Ich glaube, Inklusion ist die Chance, Gesellschaft neu zu denken. So dass alle teilhaben können, indem wir uns mit unseren Fähigkeiten sehen und nicht an Hand unserer vermeintlichen Einschränkungen einsortieren.
Jeder von uns tut es und mit jedem von uns wurde es bereits getan. Wie Socken in unserer Sockenschublade, sortieren wir und werden wir binnen Sekundenbruchteilen einsortiert. Und das beginnt gleich nach dem Aufstehen: ‚dunkle Wolken – schlechtes Wetter‘, ‚Ampel auf rot – verkehrshemmender Fahranfänger‘‚lauter Chef – geisteskranker Choleriker‘, ‚nettes Lächeln – nette Kolleg*innen‘, ‚rollstuhlfahrender Rentner – behindert‘.
Ja, es ist eine Binsenweisheit, dass vorteilhafte Vorurteile den Vorteil haben, unsere Welt berechenbarer zu machen. Tragischerweise machen unvorteilhafte Vorurteile aber auch unseren Erfahrungshorizont maximal berechenbar. Warum? Weil – Überraschung – unser Denken, Fühlen und schließlich auch unser Handeln zusammenhängen. Wir können gar nicht anders, als das, was wir denken, auch zu fühlen. Machen wir das mit Naturphänomenen (‚dunkle Wolken‘) und Fakten (‚rote Ampel‘), erzeugen wir im besten Fall bloß ungute Gefühle bei uns selbst oder aber einen richtig miesen Tag, weil wir unseren Erfahrungshorizont auf düstere Aussichten verengen.
Im schlimmsten Fall jedoch handeln wir völlig ungefiltert nach diesen ersten Gefühlen und werden selbst zum ‚cholerischen Chef‘. Das hat dann vielleicht Auswirkungen auf unsere Mitmenschen, welche deswegen unsere schlechte Laune mit wiederum ihrer schlechten Laune quittieren. Dann haben wir uns unseren eigenen schlechten Tag gezimmert und anderen die Laune verhagelt. Natürlich ‚vollkommen unbeteiligt‘ sagen wir dann: ‚Nicht mein Tag heute!‘. Oh doch, unser ureigener Tag! …und unsere ureigenen Erfahrungen, selbst gezimmert aus einer endlosen Spirale von Gedanken, Gefühlen und Handlungen.

Die Königsklasse in der sportlichen Disziplin ‚unvorteilhafter Vorurteile‘ aber ist: Andere Mitmenschen – neben Naturphänomenen und ähnlichen Fakten – mit unserem eigenen Etikettiergerät zu etikettieren. Und das nach Vorgabe unserer eigenen fixen Gedanken und Vorurteile. Nehmen wir das klischeehafte und viel genutzte Beispiel, ‚dicke Menschen seien ungesunde Faulenzer‘. Ich glaube, dass jeder ‚ungesunde Faulenzer‘ immer auch gute Chancen hat, ein ‚dicker Mensch‘ zu werden. Dass aber jeder ‚dicke Mensch‘ automatisch ein ‚ungesunder Faulenzer’ ist, halte ich erwiesenermaßen für ein unvorteilhaftes Vorurteil. ‚Warum unvorteilhaft?‘ könnten wir jetzt fragen. Weil wir uns selbst damit neue Erfahrungen erschweren und andere Menschen geringschätzen, abwerten und einsortieren. Wer will das schon?
In diesem Sinne ist das Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (Inklusion) eine ausgezeichnete Gelegenheit, wieder eine Menge neuer Erfahrungen mit einer Menge Mitmenschen zu machen. Ich glaube, das braucht den Mut, jeden Menschen mehr einzeln, anstatt als Mitglied einer Gruppe, wahrzunehmen. Damit das nicht zum Häkeln mit fast acht Milliarden Häkelnadeln (ungefähre Weltbevölkerung) und damit zu einer kompletten Überforderung des Einzeln im Umgang mit allen anderen wird, braucht es auch eine Priese Gelassenheit, einen großen Schuss Gespräche, angereichert mit gegenseitigem Wahrnehmen und als Grundlage unsere Bereitschaft, Vorurteile genüsslich weich zu kochen und in diesem Zutatenmix täglich aufzulösen.
Es muss kurz nach meiner Teilnahme an der ersten Weltmeisterschaft, 2010 in Hannover, gewesen sein, dass ich häufiger mit ‚der Tänzer‘ angesprochen wurde. Ich empfand und empfinde das immer noch als schmeichelhaft, wenn mich fremde Mitmenschen so ansprechen, weil es meine Fähigkeiten anerkennend in den Vordergrund stellt. Meine Großmutter hatte ich in jungen Jahren sagen hören, ‚der Behinderte‘, wenn sie über mich sprach. Sehr gut habe ich noch in Erinnerung, wie verletzend das damals war, ist doch diese Schublade eine grobe Verkürzung dessen, was ich bin. Eine Verkürzung ist ‚der Tänzer‘ auch, aber eine, die den Blick nicht auf Einschränkungen, sondern auf Fähigkeiten, lenkt.
Richtig grundlegend schlechte Erfahrungen mache ich als Rollstuhlnutzer selten. Und dennoch habe ich das Gefühl, dass der Anblick ‚behinderter Menschen‘ in unseren Innenstädten noch kein gänzlich selbstverständlicher ist. Solange meine ‚Behinderung‘ oder simpel meine körperliche Beschaffenheit noch gelegentlich ungläubige ‚Gibt‘s-ja-gar-nicht-,-es-lebt!‘-Blicke auslöst, können wir noch dazulernen und brauchen noch viel mehr Erfahrungen, die diesen oft nachvollziehbaren Unsicherheiten auf beiden Seiten entgegenwirken!
An Tagen, an denen ich mir erfolgreich einen schlechten Tag gezimmert habe, kann jener hartnäckige Blick des Museumsbesuchers auf das rollende Exponat sehr unangenehm sein. An den übrigen Tagen nehme ich das kaum wahr. Denke ich aber an eindeutige Exklusion und Diskriminierung, fallen mir weniger unbeabsichtigte Verhaltensweisen ein, wie bei dem Partygast, der meine Anwesenheit auf dem Dancefloor mit ‚Mein Vater ist auch Krüppel, aber der braucht nicht soviel Platz wie du!‘ kommentierte. ‚Sie Krüppel‘ wäre ein erster Schritt zur Heilung. Oder ich denke an jene gelegentlichen Hilfsangebote, die von mir dankend abgelehnt werden, dabei aber das ‚Nein‘ ignoriert und Hilfe aufgezwungen wird oder wenn meine Begleiter gefragt werden, ‚Was will er denn essen?‘. Es spricht! – Das steht freilich nicht dran und ein Beipackzettel fehlt auch.
Aber ich habe den Eindruck, dass sich in Deutschland in den letzten Jahren und Jahrzehnten viel in Sachen ‚Inklusion‘ getan hat. Wir haben uns auf den Weg gemacht. Bei diesem Dauerlauf mögen andere Länder einen Vorsprung haben, aber das ist ein Rennen, bei dem nur alle zusammen gewinnen können. Und auch ich wünsche mir für manche Menschen manchmal einen ‚Beipackzettel‘, der mir genau sagt, wie man beispielsweise beim Gegenüber in kein Fettnäpfchen tritt. Diese Unsicherheit hat also rein gar nichts mit dem Etikett ‚behindert‘ zu tun, sondern ist vermutlich Ausdruck des Wunsches nach Berechenbarkeit in einer zunehmend verschachtelten Welt.
Heute scheint mir unser Rezept gegen diese ‚Verschachtelung unserer Welt’ das Anlegen von noch mehr Schachteln oder Vorurteilen, die uns helfen sollen, Übersicht zu gewinnen. Da behandeln wir den stauauslösenden Mitmenschen wie einen ‚verkehrshemmenden Fahranfänger‘, den dünnen Menschen, wie ein ‚magersüchtiges Modell‘, oder – an ganz besonders schlechten Tagen – unseren lauten Chef, wie einen ‚geisteskranken Choleriker‘. Vielleicht wird an letzterem Beispiel besonders gut deutlich, dass wir mit noch mehr schachtelnden Vorurteilen unser Leben kurzfristig, aber nicht langfristig einfacher machen können.
Wenn Inklusion das Recht aller Menschen auf gesellschaftliche Teilhabe ist, dann glaube ich, müssen wir ‚out of the Box‘ denken. Also weg mit unseren Schachteln und Vorurteilen, hin zu noch mehr echtem Dialog auf Augenhöhe – gerade im Alltag! Und hin zu ganz viel gemeinsam an spannenden Erfahrungen wachsen! Gemeinsam, denn Inklusion ist keine Einbahnstraße, sondern sich gegenseitig wertschätzend wahrnehmen und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen.